DIE GESCHICHTE DES PLATZES

Ökonomisches Geschick begründete die Hanauer Neustadt: indem er calvinistischen Flüchtlingen ein neues Zuhause bot, legte Graf Philipp Ludwig II. im 16. Jahrhundert den Grundstein für Hanaus wirtschaftlichen Erfolg. Und ganz im Zentrum dieser Geschichte liegt der Platz an der Wallonisch-Niederländischen Kirche.

ZUHAUSE IM SCHACHBRETTMUSTER

Die Entstehung der Hanauer Neustadt

Am 01. Juni 1597 unterzeichnete Graf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg die sogenannte „Capitulation“, eines der wichtigsten Dokumente in Hanaus Geschichte. Es handelt sich um einen Vertrag, den er mit calvinistisch reformierten Flüchtlingen aus den spanischen Niederlanden, dem heutigen Belgien, Holland und dem Nordosten Frankreichs, schloss. Die Niederländer und Wallonen waren aufgrund ihres reformierten Glaubens aus ihren katholischen, spanisch besetzten Heimatländern vertrieben worden. Zunächst hatten die Calvinisten sich in Frankfurt niederlassen wollen, doch auch hier wurden nach kurzer Zeit ihre Rechte beschnitten, vor allem jenes auf freie Religionsausübung. So wandten sich die Emigranten an den Grafen von Hanau. Sie hatten Glück, denn Philipp Ludwig II. und seine Frau Katharina Belgia, eine Tochter des niederländischen Freiheitshelden Wilhelm I. von Oranien, waren weltoffene, gebildete Regenten und ebenfalls reformierten Glaubens. Zudem sahen sie eine hervorragende Möglichkeit für wirtschaftlichen Aufschwung im zu diesem Zeitpunkt noch recht verschlafenen Städtchen Hanau (heutige Altstadt). Denn die potenziellen Neubürger/innen brachten Kapital, internationale Handelsbeziehungen und modernste Technologien aus ihren Heimatländern mit. In der „Capitulation“ sicherte Philipp Ludwig II. den Glaubensflüchtlingen neben vielen anderen Privilegien das Recht auf freie Religionsausübung zu. Im Gegenzug sollten sich die „Réfugiés“, wie die Neuankömmlinge in dem Vertrag bezeichnet werden, in Hanau niederlassen und wirtschaftlich tätig sein. Der Graf stellte seinen neuen Bürgern Bauplätze vor den Toren der Hanauer Altstadt zur Verfügung. Hier errichteten der Graf und seine Neubürger nach den Plänen des Ingenieurs Nicolas Gillet eine Planstadt im Stil der Renaissance. Das erklärt die quadratische Anordnung der Häuserblöcke und Plätze in Neu-Hanau. Damals war diese Art von Städtebau im Schachbrettmuster ein absolutes Novum und sollte Vorbild werden für ähnliche Stadtplanungen beispielsweise in Neu-Isenburg und Mannheim. Auf einem Areal von der dreifachen Größe der Hanauer Altstadt entstanden Wohnhäuser, Werkstätten, Manufakturen, ein Marktplatz und die Hanauer Neustadt sollte sich selbst verwalten – was auch so blieb bis zu einer Reform im Jahr 1821. Doch das größte und eindrucksvollste Bauwerk in der von den Emigranten gegründeten Hanauer Neustadt war ihre Kirche.

WAHRZEICHEN DER NEUSTADT

Die Wallonisch-Niederländische Kirche und die Französische Allee

Der Bau der Wallonisch-Niederländischen Doppelkirche begann im Jahr 1600. Acht Jahre später konnte der erste Gottesdienst abgehalten werden. Erst 1623 war das Gotteshaus komplett fertiggestellt. Die Doppelkirche verfügt über zwei ineinander verschränkte, aber durch eine Mauer getrennte Innenräume in Form eines Zwölfecks und eines Achtecks sowie einen gemeinsamen Kirchturm. Der größere Kirchenraum diente der wallonischen, der kleinere der niederländischen Gemeinde, die sich durch ihren reformierten Glauben und ihre Geschichte verbunden waren, jedoch auch ihren unterschiedlichen Sprachen Rechnung tragen wollten. Bis zu ihrer Zerstörung 1945 war die Wallonisch-Niederländische Kirche das weithin sichtbare Wahrzeichen der Stadt Hanau.
In der Neustadt entfaltete sich bald eine ungeheure wirtschaftliche Tätigkeit. Auch rund um den Kirchplatz ließen sich Tuchmacher, Weber, Hutmacher und Goldschmiede nieder. Die Hanauer Produkte fanden alsbald Abnehmer bis weit über die Landesgrenzen hinaus. Einige der ersten Wohnhäuser an der Französischen Allee, die den Platz der Wallonisch-Niederländischen Kirche umschließt, errichtete der wallonische Seidenhändler René Mahieu, der auch den Kirchenbau beaufsichtigte. Der einstige Glaubensflüchtling war in Neu-Hanau zu einem angesehenen Kaufmann geworden und wurde sogar der erste Bürgermeister der jungen Stadt. An der Westseite des Kirchplatzes ließ er zwischen der heutigen Alt-, Steinheimer und Hahnenstraße 18 Häuser bauen. Darunter auch die von Mahieu sogenannte „Arche Noah“, ein Symbol für die Zuflucht, die der Bauherr mit seiner Familie in Hanau fand. In dem 35 Meter langen, sehr repräsentablen Gebäude fand damals unter anderem die Vereidigung der Hanauer Ratsherren statt.
Die Erbauer des allerersten Hauses in der Neustadt fühlten sich im Paradies angekommen. Die an der Fassade angebrachte Inschrift „Zum Paradies“ ist bis heute erhalten und verhalf der Straße zu ihrem Namen: Paradiesgasse. Sie verbindet von Norden her den Platz an der Wallonisch-Niederländischen Kirche mit dem Marktplatz. In der Folgezeit wechselten die Bauten rund um die Kirche häufig den Besitzer und wurden für unterschiedlichste Zwecke genutzt. Händler, Kaufleute, Künstler, Gaststätten und Schulen fanden über die Jahrhunderte hinweg Lebens- und Arbeitsraum an der Französischen Allee.

MARTIN HOPPE

Leiter Fachbereich Kultur, Stadtidentität und Internationale Beziehungen der Stadt Hanau

Kaum jemand kennt die Hanauer Geschichte besser als Martin Hoppe. Lassen Sie sich von ihm mitnehmen in die Vergangenheit des Platzes an der Wallonisch-Niederländischen Kirche und in das einstige Leben an der Französischen Allee.

HOCH DAS BEIN

Gründung des Deutsches Turnerbundes

Die Wallonisch-Niederländische Kirche schrieb sogar Sportgeschichte: am 2. und 3. April 1848 wurde hier der Erste Deutsche Turnertag abgehalten und der Deutsche Turnerbund gegründet. Der berühmte „Turnvater Jahn“ hielt dazu eine festliche Rede.

ZERSTÖRUNG IM MORGENGRAUEN

Bombardierung im Zweiten Weltkrieg und Wiederaufbau

Der 19. März 1945 ging als „Hanauer Schicksalstag“ in die Geschichte ein. Am frühen Morgen schlug der vom NS-Regime ausgerufene „totale Krieg“ mit voller Wucht auch auf Hanau zurück: über 230 Flugzeuge der Royal Air Force bombardierten die gesamte Alt- und Neustadt. Die Wallonisch-Niederländische Kirche und die Gebäude rund um die Französische Allee wurden komplett zerstört. Lediglich der niederländische, kleinere Teil der Kirche wurde für beide Gemeinden zusammen wieder aufgebaut und 1960 eingeweiht. Der wallonische Teil wurde als Ruine belassen. Die Kirche wurde so zu einem Mahnmal gegen den Krieg und gleichzeitig blieb sie ein Treffpunkt für Gläubige und erinnert an das geradezu paradiesische Zuhause, das Flüchtlinge vor über 400 Jahren hier vorfanden. Die Französische Allee wurde im Laufe der 1950er Jahre mit Mietshäusern in der typischen Siedlungsarchitektur der unmittelbaren Nachkriegszeit bebaut. Notgedrungen wich der Charme des Platzes an der Wallonisch-Niederländischen Kirche zweckmäßigem, schnell bezugsfertigem Wohnraum und Parkplätzen. Beides wurde in der völlig zerstörten Stadt dringend benötigt.

FRISCHZELLENKUR

Der Hanauer Stadtumbau

Anfang des neuen Jahrtausends prägten die schnell hochgezogenen Bauten aus den 1950er und 1960er Jahren noch immer das Hanauer Stadtbild. Es wuchs der Wunsch, die Innenstadt zu erneuern, zu modernisieren und ihre Attraktivität für Handel, Einkauf, Kultur und Wohnen zu erhalten. 2008 entschlossen sich die politisch Verantwortlichen in der Stadt Hanau, den Umbau ihrer Stadt europaweit im sogenannten „Wettbewerblichen Dialog“ auszuschreiben, um ein bestmögliches Ergebnis zu erzielen. 2010 starteten die ersten Baumaßnahmen, Hanau unterzog sich selbst einer Art Frischzellenkur und erlebte eine bundesweit beispiellose Innenstadtsanierung. Das Karree der Französischen Allee und die Wallonisch-Niederländische Kirche in seiner Mitte, gehören zu der Achse von fünf Plätzen, die den Stadtgrundriss auf besondere Weise definieren und auf die sich der Umbau der Innenstadt konzentrierte.

GENERATIONENRAUM

Die Kathinka-Platzhoff-Stiftung

Ab 1987 fand die Kathinka-Platzhoff-Stiftung im Innenhof der Wallonisch-Niederländischen Kirche ihr Zuhause und betreibt hier heute ihre Familienakademie mit generationenübergreifenden Angeboten. Bereits seit 1981 widmet sich die Kathinka-Platzhoff-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde der Betreuung und Förderung von Kindern, Jugendlichen und Senioren. Kathinka Platzhoff (1896–1981) war die Enkeltochter des Hanauer Unternehmensgründers Wilhelm Carl Heraeus und stets eng mit der reformierten Kirche im Herzen der Hanauer Neustadt verbunden. Der Einbau des Diakoniezentrums der Kathinka-Platzhoff-Stiftung in den Innenraum der Wallonisch-Niederländischen Kirche wurde 1988 mit dem Hessischen Denkmalschutzpreis ausgezeichnet.

DORNRÖSCHEN IST AUFGEWACHT

Der Platz an der Wallonisch-Niederländischen Kirche im Jahr 2020

Im Jahr 2020 ist der Platz an der Wallonisch-Niederländischen Kirche endlich aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, der ihn in den Nachkriegsjahren befallen hat. Diverse Um- und Neubauten an der Französischen Allee, Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung und die völlige Neugestaltung des Platzes rings um die Kirche lassen diesen besonderen Ort Hanaus in neuem Licht erstrahlen. Helle, moderne Wohnhäuser sowie kleine Geschäfte, Bars und Restaurants säumen nun die Französische Allee. Aus allen Himmelsrichtungen ist der Blick auf die Kirche wieder frei. Es, ist als hätte der Platz selbst endlich wieder Raum zum Atmen. Die Neustadt hat ein grünes Zentrum erhalten, das Treffpunkt sein möchte für alle Menschen – egal welcher Religion, Herkunft oder Kultur. Das hätte Graf Philipp Ludwig II. sicher gefallen.